Umgang mit Alten in der Coronakrise

Prominente rufen zur "moralischen Revolte" auf

Sie warnen vor einem selektiven Gesundheitswesen, das älteres Leben entwerte: Politiker, Geistliche und Forscher haben einen Aufruf zu mehr Menschlichkeit veröffentlicht - nicht nur in Deutschland.

23.05.2020,

Zitat aus dem Appell: "Der Wert des Lebens muss gleich für alle bleiben."
Ute Grabowsky/photothek.net/ imago/photothek

Prominente aus Politik, Gesellschaft, Kirche und Wissenschaft haben in einem internationalen Appell dazu aufgerufen, das Leben alter Menschen in der Coronakrise nicht abzuwerten. Die Unterzeichner des Appells formulieren den Wunsch nach einer "moralischen Revolte".

"Alle notwendigen Energien müssen investiert werden, um die größte Zahl an Leben zu retten und den Zugang zur Behandlung für alle zu ermöglichen", heißt es in dem Appell, der in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" als Anzeige veröffentlicht und unter anderem auch von dem Philosophen Jürgen Habermas unterzeichnet wurde.

Prominenter Unterzeichner: Soziologe Habermas
Oliver Berg/ picture-alliance/ dpa

"Der Wert des Lebens muss gleich für alle bleiben. Wer das zerbrechliche und schwache Leben der Älteren abwertet, bereitet einer Entwertung jeden Lebens den Weg", heißt es in dem Aufruf. Ziel müsse es auch sein, wegzukommen von der "Institutionalisierung alter Menschen".

Zu den zahlreichen Erstunterzeichnern des Appells gehören der frühere EU-Kommissionspräsident Romano Prodi, Ex-Bildungsministerin Annette Schavan sowie der Erzbischof im norditalienischen Bologna, Kardinal Matteo Zuppi.

"Die demokratische und humanitäre Ethik sind darauf gegründet, keinen Unterschied zwischen Menschen zu machen"

In vielen Ländern tauche "ein gefährliches Modell" auf, das sich für ein selektives Gesundheitswesen ausspreche, in dem das Leben alter Menschen als zweitrangig betrachtet werde. "Ihre größere Verletzlichkeit, das fortgeschrittene Alter und die möglicherweise vorliegenden weiteren bei ihnen bestehenden Erkrankungen sollen danach eine Form der Auswahl zugunsten der Jüngeren und Gesünderen rechtfertigen."

Sich damit resigniert abzufinden, sei menschlich und rechtlich inakzeptabel, heißt es weiter: "Die demokratische und humanitäre Ethik sind darauf gegründet, keinen Unterschied zwischen Menschen zu machen, auch nicht aufgrund des Alters."

Die Unterzeichner warnen vor einer Spaltung der Gesellschaft in Altersgruppen: In allen Kulturen finde sich weiterhin der Gedanke, dass die Generation alter Menschen ein Kapital sei. "Wir dürfen die Generation nicht sterben lassen, die gegen die Diktaturen gekämpft, sich um den Wiederaufbau nach dem Krieg gemüht und Europa aufgebaut hat."

Der Appell sei entstanden, um der großen Sorge über die derzeit zu vielen Todesfälle unter alten Menschen Ausdruck zu verleihen. Es brauche "eine moralische Revolte, damit bei der Behandlung alter Menschen ein Richtungswechsel erfolgt und damit vor allem die besonders Verletzlichen nie als eine Last oder, schlimmer noch, als unnütz betrachtet werden".


Quelle: spiegel.de vom 23.05.2020